Jugendkulturen – Eine ZEIT-Serie
An die Stelle der großen Jugendbewegungen sind unüberschaubar viele Szenen und Stile getreten. Die meisten davon sind politischer, als es scheint. Diese These wird unter folgenden Aspekten beleuchtet:
- Event als Politikersatz, Chatroom statt Ortsverein,
- Aussortieren, was falsch ist
- Alter und Ego
- Jugend ist Leiden
- Später Absprung
- Landser, Söldner und Kanaken
- Ritzen, Sex und Meerschweinchen – Pubertät im Jahr 2002
- Es geht um Macht – Jugend und Politik
- Wie diese Gesellschaft ihre Jugend verspielt
- Jugend in Ost- und Westdeutschland: Eine neue Studie zeigt deren Sehnsucht nach Werten ebenso wie deren Bereitschaft zu Gewalt
- Gefühle demonstrieren.
In einem zusammenfassenden Artikel beschäftigt sich Jörg Lau mit der „Macht der Jugend“
Von Jörg Lau
Die Jugend gibt Anlass zur Sorge. Das ist nichts Neues. »Die Jugend von heute« war immer schon ein Codewort für alles, womit die Nachwachsenden den Erwachsenen Verdruss bereiten. Neu ist freilich, worüber die Jugendforscher seit einigen Jahren die Stirn in Falten legen. Man spricht von einer »beunruhigenden Normalisierung«. Die Jugend ist ihren professionellen Beobachtern nicht mehr zu rebellisch, sondern zu angepasst.
Nirgends ist die Ambivalenz dieses Wertewandels besser getroffen worden als in einem wunderbar ironischen TV-Spot der Bausparkasse LBS. Da sitzen Lena und ihr Papa vor ihrem Wohnwagen in der Wohnwagensiedlung. Lena: »Ich kenn da ein Mädchen aus meiner Klasse, und der Vater von der, der hat ein eigenes Haus, wo jeder sein eigenes Zimmer hat.« – »Das sind doch Spießer«, antwortet der etwa 40-jährige Vater. Lena setzt nach: »Und Bernd hat eine Wohnung auf dem Dach, von wo aus man die ganze Stadt sehen kann.« Der Vater mürrisch: »Auch Spießer.« Darauf Lena: »Papa, wenn ich groß bin, dann will ich auch mal Spießer werden.«
Die Polemik gegen den Spießer, eine Lieblingsbeschäftigung früherer Gegenkulturen, ist sinnlos geworden, weil Abweichung die neue Normalität ist. Die Jugendforschung aber blickt voller Nostalgie auf eine Zeit zurück, als jugendliche Subkulturen noch eine Herausforderung für den Mainstream waren. Je nachdem, wie man zur etablierten Ordnung stand, konnte man dies als willkommene Subversion eines erstarrten Spießertums feiern – oder sich sorgen, ob die jungen Leute aus der Hippie- oder Punk-Szene wohl jemals den Weg in die Normalität des Erwachsenenlebens finden würden.
Was aber, wenn die Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur selbst als normal gilt, während umgekehrt die »Normalos« zur erklärungsbedürftigen Randerscheinung werden? So sieht heute mancher kritische Jugendsoziologe die Lage: Wo einst die aufsässige Subkultur die angepasste Mehrheit provozierte, fließe heute der träge Strom eines zunehmend unübersichtlichen »Mainstreams der Minderheiten«. Jugendkulturen, heißt es, werden heute unmittelbar kulturindustriell verwertet, wenn sie nicht ohnehin schon von Marketingabteilungen erfunden worden sind. Sie seien, kurz gesagt, Teil des Systems geworden. Ihre vielen feinen Unterscheidungen bedeuteten daher eigentlich nichts mehr. Der »jahrzehntelange jugendliche Innovationsschub«, so etwa der Leipziger Soziologe Dieter Rink, »scheint zumindest vorerst erlahmt zu sein.«
So gesellt sich nun also zu der demografischen Sorge, dass die alternde Gesellschaft viel zu wenig Jugendliche hat, auch noch die Beklemmung darüber, dass die Jugend nicht rebellisch genug ist, der Gesellschaft als »Kraftspender wider Willen« (Rink) die nötige Innovation zu verpassen. Nur am äußersten rechten Rand gibt es noch eine geschlossene, hoch politisierte Jugendszene, die aber ihrerseits Grund zur Sorge ist.
So gesellt sich nun also zu der demografischen Sorge, dass die alternde Gesellschaft viel zu wenig Jugendliche hat, auch noch die Beklemmung darüber, dass die Jugend nicht rebellisch genug ist, der Gesellschaft als »Kraftspender wider Willen« (Rink) die nötige Innovation zu verpassen. Nur am äußersten rechten Rand gibt es noch eine geschlossene, hoch politisierte Jugendszene, die aber ihrerseits Grund zur Sorge ist.
Das verbreitete Urteil über eine weitgehend entpolitisierte Jugend kann sich auf die Daten der letzten fünf Shell-Studien stützen. Demnach ist der Anteil der Jugendlichen, die sich als »politisch interessiert« bezeichnen, über 20 Jahre hinweg kontinuiertlich gesunken – von 55 Prozent im Jahr 1984 auf 34 Prozent im Jahr 2002. Doch der Berliner Jugendforscher Klaus Farin, Gründer und Leiter des Archivs der Jugendkulturen, hält solche Zahlen für sehr deutungsbedürftig. Eine Kollegin, erzählt er, habe einmal für die Shell-Studie ein »absolut nicht engagiertes« Mädchen porträtiert. Wenig später traf sie die 17-Jährige bei einer Demonstration und stellte sie zur Rede. »Es stellte sich heraus«, so Farin, »dass das Mädchen regelmäßig an antirassistischen Demonstrationen teilnahm, weil sie diese als spannende Events sah und dort viele ihrer Freunde treffen konnte.« Als »politisches Engagement« habe sie das nicht gesehen und so die Frage nach ihrem politischen Interesse »rundweg verneint«.
Farin hält daher die Annahme, die in viele Szenen zersplitterte Jugend sei angepasst und unpolitisch, für schlichtweg falsch. Die Weigerung junger Leute, sich als »politisch engagiert« darzustellen, könne nicht als Gleichgültigkeit gedeutet werden. Farin erzählt von einer Vorstadtdisco, deren Betreiber plötzlich anfing, Ausländer mit dem Hinweis »nur für Klubmitglieder« abzuweisen. Eine Gruppe von Mädchen organisierte einen Boykott, andere Cliquen schlossen sich an. Der Betreiber musste Konkurs anmelden, der neue Pächter beendete die Diskriminierung, die Mädchen kamen zurück und tanzten weiter. Die Organisatorin des Boykotts habe darin »keine politische Aktion« gesehen, so Farin, sie habe nur »die Diskriminierung unserer Freunde in unserer Disco« nicht hinnehmen wollen.
Die Tatsache, dass hergebrachte politische Organisationen große Schwierigkeiten haben, Jugendliche für sich zu mobilisieren, hat weniger mit politischer Ignoranz und Trägheit der Zielgruppe zu tun als mit dem allgemeinen Vertrauensverlust von Institutionen. Kirchen, Sportvereinen und Gewerkschaften geht es da nicht anders als den Parteien. Heutige Jugendliche haben kein Interesse an Ideologien, Programmdebatten und Theorien wie noch viele in der Generation ihrer Eltern.
Auch mangels politischer Trennlinien sind viele Forscher, genau so wie Eltern, Lehrer und Politiker, von der stetig wachsenden Vielfalt jugendlicher Szenen überfordert. Die Zahl der heute in Deutschland vertretenen artificial tribes – also der Stammesgesellschaften, die sich durch eigene Rituale, Treffpunkte, Stilmerkmale voneinander und von der Erwachsenenwelt unterscheiden – wird in Marketingstudien auf 400 bis 600 geschätzt.
Und so unglaublich es klingt: Es werden noch immer mehr. Neue Überkreuzungen entstehen auch dadurch, dass es zur Normalität heutiger Jugendlichkeit gehört, bis zu sechs Szenen zu durchlaufen. Kein Stil stirbt mehr für immer. Die vitalsten Stammkulturen der Musikszene – HipHop, Punk und Techno – können schon auf zwei bis drei Jahrzehnte Stilgeschichte mit immer neuen Revivals zurückschauen und verzweigen sich weiter in zahllose Untergruppen. Das ist verwirrend für die heute Erwachsenen, die mit einer Abfolge dominanter Haupttrends aufgewachsen sind. Im Kalten Krieg der Jugendkulturen hatte man die Wahl zwischen übersichtlichen Alternativen wie Beatles oder Stones, Punk oder Disco. Und man wusste immer – oder glaubte es doch zu wissen –, wer dabei rechts oder links, progressiv oder regressiv war.
Klaus Farins stetig wachsendes Archiv bezeugt, dass diese Zeit endgültig vorbei ist. Es verzeichnet die lebensweltlichen Spuren so disparater Szenen wie Beachvolleyballer, Biker, Gamer, Girlies, Greaser, Hacker, Hooligans, Raggamuffins, Rapper, Raver, Redskins, Satanisten, Skateboarder, Straight-Edger, Streetballer, Tierrechtler, Trainsurfer, Trekkies, Veganer und Wakeboarder.
Und wer es ganz genau wissen will, dem kann der Inlands-Ethnologe Farin dann auch noch erklären, was es mit den schätzungsweise 18 Untergruppen der Gothic-Szene auf sich hat oder wie sich parallele Minigalaxien im expandierenden Techno-Universum – etwa Gabba und Speedcore – zueinander verhalten.
Warum aber gibt es überhaupt immer mehr Szenen? Die Soziologen behelfen sich mit drei großen Stichworten: Medialisierung, Individualisierung, Kommerzialisierung.
Nun ist es zweifellos richtig, dass die Entwicklung der Medien den Prozess beschleunigt: Ohne die Revolution der Kommunikationsmittel durch Privat- und Musikfernsehen, PC und Internet wäre die Ausdifferenzierung der Szenen nicht denkbar. Dass die allgemeine Pluralisierung der Lebensstile jenseits von Stand und Klasse sich in Jugendkulturen ausdrückt, ist ebenfalls nicht zu bestreiten. Und wer würde leugnen, dass die Kulturindustrie begierig jeden neuen Trend in Waren umsetzt, wenn sie ihn nicht gleich selbst erfinden kann wie etwa im Fall von Streetball, einer adidas-Idee.
Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, dass der Erfolg dabei nur begrenzt planbar ist. Der Versuch, aus einer in Amerika verbreiteten Praxis (Basketballspielen auf öffentlichen Plätzen) eine weltweite Ware zu machen, hat trotz zahlreicher inszenierter Events nicht funktioniert. Die Jugendlichen haben Streetball erst angenommen, als adidas die Werbetrommel ruhen ließ. Die permanent belagerte Jugend ist hoch allergisch gegen alle Versuche, ihr etwas Inauthentisches anzudrehen. Ihre Avantgardisten sind abgeklärte Konsumenten, die wissen, dass es keinen Ausstieg aus dem Zirkel von Innovation und Kommerzialisierung gibt. Die Kreativsten von ihnen treiben die Trendscouts der Industrie mit ihren stetig neuen Unterscheidungen vor sich her. Die Vielfalt der Szenen ist auch das Resultat dieses Kampfes um die Macht über die Zeichen.
All dies erklärt aber nicht, was das Leben in Szenen so attraktiv für Jugendliche macht. Der Soziologe Ronald Hitzler lässt an seinem Lehrstuhl in Dortmund ein ganzes Team Szenen-Ethnografie schreiben. Szenen sind flexibler, offener und weniger bindend als hergebrachte Milieus oder politische Lager. Sie bieten gemeinschaftliche Rituale in einer Gesellschaft, die kaum noch Verbindlichkeiten kennt. Sie sind diffuse, aber doch strukturierte Gebilde. Man kann sich in abgestuften Graden an ihnen beteiligen: Da gibt es die Mitglieder des harten Kerns, Hüter und Erneuerer des Wissens und der Kompetenzen, die über Zugehörigkeit entscheiden; die interessierten Mitläufer, die zwar den Lebensstil der Szene pflegen, aber ihren Lebensmittelpunkt irgendwo draußen beibehalten; und das sympathisierende Gelegenheitspublikum am Rande, ohne das der harte Kern vor leerem Saal spielen würde.
Alle diese Szenegänger bauen mit an einem Raum, der ihrem Ausdruckswillen eine Bühne gibt. Jugendkulturen schaffen das Zauberkunststück, ihre Anhänger sichtbar, aber unlesbar zu machen. Unlesbar jedenfalls für die Erwachsenen. Für die eigenen Leute sind sie durch den szenetypischen Stil unmittelbar erkennbar, noch bevor das erste Wort gefallen ist. In der Szene kann ich mich als zugehörig erweisen, indem ich die akzeptierten Formen übernehme, und ich kann mich als individuell und kreativ zeigen, indem ich minimale Abweichungen kultiviere oder gar neue Stile und Tricks einbringe.
Musik ist nach wie vor ein Kern vieler Szenen, neue »Fun«-Sportarten und virtuelle Computerwelten sind hinzugekommen. Je nach Temperament und Lebenslage kann ich etwa meine souveräne Körperkontrolle beim Boarden aggressiv und akrobatisch im Stadtraum ausstellen oder umgekehrt mein Unwohlsein im eigenen Körper als Gruftie grotesk überstilisieren. Ich kann mich als gehemmter weißer Vorstadtjunge ins barbarisch-erotische Luxusleben der Gangsta-Rapper hineinträumen oder als Mädchen in der Beachvolleyball- oder Snowboardszene beweisen, dass ich Jungs an Waghalsigkeit zu überbieten vermag. Als türkischstämmiger Rapper deutscher Zunge schließlich kann ich zum wütenden Poeten werden, der aus seinem Migranten-Stigma Kapital schlägt, indem er die kulturellen Produktionsmittel erobert.
Wer die komplexe Wirklichkeit heutiger Jugendkulturen verstehen will, muss sich vom Wunschbild einer einheitlichen »neuen Jugendbewegung« verabschieden, die »das Establishment« herausfordert. Eine solche Bewegung wird es schon deshalb nicht geben, weil ihr das klare Gegenüber fehlt. Die Jugendlichen von heute sind mehrheitlich in »postautoritären pädagogischen Milieus« aufgewachsen, so der Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker. Dies bedeutete sehr oft »überforderte Eltern und Lehrer und eine ungewisse, ungesicherte Ordnung in Familie und Schule«. Viele von ihnen erleben Erwachsene, die selbst nur zögerlich oder überhaupt niemals von ihrer eigenen Jugendlichkeit Abstand genommen haben: Mutter und Tochter kaufen gemeinsam bei H&M ein, die ganze Familie fiebert dem neuen Harry Potter entgegen und amüsiert sich über Schnappi, das kleine Krokodil.
Was geschieht mit Jugendkulturen in einer Gesellschaft, die ihre Vorstellung von »Jugendlichkeit« immer mehr von einem bestimmten Alter und vom Übergang in das Erwachsenendasein abkoppelt? Sind die Szenen dann irgendwann nicht mehr Autonomieräume für eine Zwischenzeit, sondern Endlagerstätten für eine Jugend, die in Wahrheit niemand braucht? Die Jugendlichen leiden, mit anderen Worten, nicht an zu viel und zu starrer Ordnung. »Die Bedrohung«, sagt Zinnecker, »die die heutigen Kinder und Jugendlichen in ihrem Leben erfahren, ist die vorzeitige Auflösung und Transformation der Ordnungen, in die sie hineinwachsen sollen oder wollen.« Ordnung, Sicherheit, Verlässlichkeit findet man heute nicht vor, sondern muss sie selbst herstellen oder rekonstruieren.
Die meisten Jugendlichen sind heute erlebnisfixierte Gelegenheitsjäger, zugleich sind sie Ordnungssucher. Sie sind in einem Maße bereit, Autoritäten wie Eltern und Lehrer anzuerkennen, die ältere Protestgenerationen geradezu schockiert.
Man erklärt sich diese Kooperationsfreudigkeit mit dem Druck des Marktes und den düsteren wirtschaftlichen und beruflichen Aussichten. Dazu passt allerdings nicht, dass die Jugendlichen in Umfragen ihre individuelle Lage gar nicht so pessimistisch einschätzen, wie es die Generation ihrer Eltern tat, die trotz großen Wohlstands und übersichtlicher Verhältnisse von apokalyptischen Ängsten – Atomkrieg, Waldsterben – gequält war.
An die Stelle von Subversion, Rebellion und Entgrenzung treten Selbstinszenierung, Ritual und Erlebnis.
Da schwingt ein konservatives Motiv mit, auch wenn viele Jugendliche es natürlich verabscheuen würden, sich so beschrieben zu sehen. Warum eigentlich? Die Aneignung und Rekonstruktion von Ordnungsmustern geschieht ja nicht im naiven Rückgriff auf eine unrettbar verlorene Bürgerlichkeit. Es ist eher eine Art Instandbesetzung: Wenn die meisten Jugendlichen sagen, sie schätzten die Familie, dann tun viele das im vollen Bewusstsein der Zerbrechlichkeit dieser Form und mit einem gewissen Bangen, ob sie selbst sie denn wohl auch werden ausfüllen können.
Das Leben in Jugendszenen ist Teil der Dynamik unserer Gesellschaft. Wer verstehen will, wohin sie sich entwickelt, muss in die Jugendkulturen hineinschauen. Die Zersplitterung der Jugendwelt macht es zwar schwer, junge Leute für ein nachhaltiges politisches Engagement zu gewinnen, ja sie überhaupt auf einer gemeinsamen Ebene anzusprechen. Die Szenen wären aber nicht so anziehend, wenn sie nicht auch einen enormen Freiheitsgewinn für ihre Mitglieder brächten – und damit für die Gesellschaft. Die fortschreitende Ausdifferenzierung der Lebensstile ist auch ein Trick, mit dem Jugendliche sich ihre Autonomie bewahren angesichts der vielen, die ihnen irgendetwas andrehen wollen – sei es ein neues Produkt oder eine politische Botschaft.