Joanne Herzberg: Betroffene des Holocaust und Opfer des Nazi-Regimes zu Gast am HVG

Ihr Vater hat überlebt, weil er für jünger gehalten wurde, als er war. Daher schaffte er es raus aus Nazi-Deutschland und entkam so dem eigentlich sicheren Tod. Dem Tod, der dann seine Schwester ereilt hat, und 13 andere Mitglieder seiner Familie. Aus Großenmarpe, direkt hier bei uns.

Joanne Herzberg berichtet darüber intensiv im Q2 Kurs Geschichte bili von Herrn Witkop, wie ihr Vater es geschafft hat, nach Amerika zu gelangen, wo sie selbst sich aber nie heimisch gefühlt hat – alles Deutsche wurde dort von der Familie verschlossen gehalten. Wie sie die Jüdin Karla Raveh aus Lemgo kennengelernt hat, wo in der Welt sie Antisemitismus begegnet ist, und über ihre Ängste und Wünsche.

Zwei Tage später, am 27. Januar, dem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, dem Holocaust – Gedenktag, nahm sie noch an der Gedenkstunde auf dem jüdischen Friedhof in Blomberg teil, den auch unsere Schüler mitgestaltet hatten. Das Datum erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee im Jahr 1945.

Näheres dazu weiter unten und in der lokalen Presse.

Blomberg gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus

Schüler des HVG beteiligen sich an der Gestaltung

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz jährt sich 2023 zum 78. Mal. Das bietet international und auch in Blomberg Gelegenheit, sich mit der Geschichte des Holocaust auseinanderzusetzen. Die Stadt Blomberg, die Blomberger Kirchengemeinden und die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Lippe luden ein zum Erinnern und Gedenken.

Traditionell fand dazu eine Gedenkstunde auf dem jüdischen Friedhof an der Reinickendorfer Straße statt. Es sprachen Bürgermeister Christoph Dolle und Pfarrerin Bettina Hanke-Postma, Worte des Gedenkens hatten außerdem Schüler des Hermann-Vöchting-Gymnasiums vorbereitet. Der bilinguale Geschichtskurs von Herrn Witkop hatte bereits zwei Tage zuvor mit Frau Joanne Herzberg einen Gast in der Schule, der direkt durch die Gräuel des Holocaust betroffen war. Frau Herzberg war am Ende des Gesprächs mit den Schülerinnen und Schülern beeindruckt vom Interesse aber auch den Sprachfähigkeiten des Kurses (das Gespräch fand auf Englisch statt), dass sie sich spontan dazu entschloss, ebenfalls an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen.

 

Hier die Worte der Schülerinnen und Schüler:

Worte des Gedenkens

 „Guten Tag, wir sind der bilinguale Geschichtskurs des Hermann-Vöchting-Gymnasiums und heute stellvertretend für unsere Schule hier. Wir freuen uns hier eine Chance zu haben um etwas zu der Gedenkfeier beizutragen. Wir haben dieses Thema im Unterricht umfassend bearbeitet und finden es persönlich sehr wichtig und zudem sehr interessant, deshalb darf es nicht in Vergessenheit geraten.

Am Mittwoch hatten wir die Chance im Rahmen des Unterrichts mit der Tochter eines Zeitzeugen zu sprechen und ein Interview zu führen. Ihr Name ist Joanne Herzberg. Eine der größten Fragen die wir vor dem Interview hatten war, wie ihr Vater damals aus Deutschland fliehen konnte und wie er danach weitergemacht hat.

Was sie uns sehr schnell klargemacht hat ist, dass die Geschichte ihres Vaters, welcher ursprünglich aus Detmold kam, keines Falls ein Einzelschicksal war, sondern mehrere Millionen Menschen betroffen hat. Der Horror der Betroffenen sei jedoch nicht nach der eigentlichen Flucht aus dem Land vorbei gewesen. Die Erinnerungen und Schuldgefühle verfolgen sie bis an ihr Lebensende und der Koffer steht immer bereit in der Ecke.

In diesem speziellen Fall war der Vater so betroffen, dass er über seine Vergangenheit nicht gesprochen hat. Joannes Kindheit war davon geprägt, dass die materiellen Besitztümer wie die neuste Kleidung, das neuste Auto oder das schönste Haus, nicht von besonderer Wichtigkeit waren. Bildung stand an erster Stelle, ebenso wie Respekt vor der Familie und Zusammenhalt.

Joanne hat auch von der Flucht ihres Vaters aus Deutschland erzählt. Er war damals 17 Jahre alt, eigentlich zu alt, um mit dem Kindertransport das Land zu verlassen. Der Kindertransport war nur für Kinder bis maximal 16 zugänglich. Seine Schwester, die damals noch 16 war, sollte eigentlich mit ihm den Zug nach England nehmen. Sie bekam jedoch im letzten Moment Angst und blieb bei ihrer Familie in Deutschland. Ein halbes Jahr später, als sie schließlich nachkommen wollte, wurde es ihr verwehrt. Sie war sechzehneinhalb, zu alt für den Transport. Das war ihr Todesurteil.

Jeder, der es nicht in den Zug schaffte, bekam ein inoffizielles Todesurteil. Der Vater war zwar 17, seine Tante half ihm jedoch damals, ohne Papiere illegal den Zug nach England zu nehmen. Als er in England war, erhielt er einen Brief seines Vaters, dass seine verbleibende Familie in Deutschland in ein Arbeitslager geschickt wurde. Dies betraf seine Eltern, seine Schwester und seine Großmutter. Sie wollten sich melden, wenn sie dort angekommen sind. Dies war der letzte Kontakt, den er mit seinen Familienmitgliedern aus Deutschland hatte. Er hatte alles verloren, und das war kein Einzelschicksal. Mit diesem Wissen lebte er sein Leben lang – und das mit dem größten Schuldgefühl.

Hinzu kam schließlich noch, dass er mit seinen 17 Jahren nicht in England bleiben durfte, woraufhin er nach Amerika ging. Was ein solches Erlebnis mit der Psyche der Millionen von Opfern macht, ist für uns unvorstellbar.

Eine Frage die wir im Unterricht auch stark thematisiert haben ist, was für eine Verantwortung wir heute noch tragen. Unsere Generation, die Generationen unserer Eltern und Großeltern waren noch nicht am Leben oder sie waren noch Kinder, sie tragen keine Schuld, aber die Verantwortung sollten wir trotz dessen tragen. Nazi-Deutschland ist ein Teil der Deutschen Geschichte, wir sollten diesen Teil nicht verdrängen, sondern aus ihr lernen und sichergehen, dass das nie wieder passiert. Wir tragen nicht die Schuld für die Vergangenheit, aber die Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft. Daher ist es wichtig sich daran zu erinnern.

Wir haben einen Teil dieser Geschichte erzählt bekommen, einen einzigartigen Ausschnitt, jedoch auch einen von Millionen. Wichtig für uns ist auch, zu verstehen, dass es so viele Opfer gab, viel zu viele. Die Nazis haben den Juden alles genommen, ihr Hab und Gut und ihre Freiheit. Joanne hat uns eines innerhalb des Interviews immer und immer wieder gesagt, ‚bildet euch, eure Bildung kann euch keiner nehmen, man kann euch euer Haus wegnehmen, die Kleidung und die Haare, aber das was in eurem Kopf ist, dass kann euch keiner nehmen‘. Wir sind die Zukunft der Welt. Wir sind nicht die Verantwortlichen für all den Horror der sich damals zugetragen hat. Wir waren ja noch nicht geboren. Es ist jedoch unsere Verantwortung so etwas in keiner Weise nochmal zuzulassen.“